Im Frühjahr 1989 besaß ich gerade seit ein paar Monaten den Führerschein und hatte mir in den Kopf gesetzt, gute Freunde in West-Berlin mit dem Auto zu besuchen. Aufgewachsen in der westdeutschen Provinz, ohne Ostverwandtschaft, war die DDR für mich ein denkbar fernes Land. Ich wusste nicht viel über das Leben hinter Stacheldraht und Beton. Aus der Entfernung schien mir das System jenseits der Mauer sogar als Projektionsfläche für linke Utopien zu taugen.
Im grellen Flutlicht an der Grenzübergangsstelle Helmstedt-Marienborn sah die Sache plötzlich anders aus. In Befehlston ausgespuckte Fragen, bohrende Blicke von Grenzern, die mir das beklemmende Gefühl gaben, in meinem Gesicht etwas lesen zu können, was mir selbst verborgen war. Ich fühlte mich schuldig und überlegte fieberhaft, gegen welches Gesetz ich verstoßen hatte.
Die militärischen Gesten der Passkontrolleure kamen mir übertrieben vor und entfalteten gleichzeitig ihre Macht. Angst kroch die Wirbelsäule hinauf und verbiss sich im Nacken. Dort hockte sie während der knapp 170 Kilometer langen Fahrt auf der Transitautobahn, bis wir hinter dem Kontrollpunkt Dreilinden endlich West-Berlin entgegenfuhren.
Geschichten von Menschen aus Ost und West
Diese Episode ging mir durch den Kopf, als mich die Robert-Havemann-Gesellschaft im März dieses Jahres fragte, ob ich die Recherchen für eine Ausstellung mit 100 Mauergeschichten übernehmen möchte. Inzwischen hatte ich mich mein halbes Leben mit DDR-Literatur, Diktaturgeschichte und Aufarbeitung befasst. Die Ausstellung sollte die Balloninstallation Lichtgrenze begleiten, die anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls ein Teilstück des innerstädtischen Grenzverlaufs für kurze Zeit wieder sichtbar machen würde.
Sieben Monate tauchte ich in die Geschichte der ehemals geteilten Stadt ein, die ich aus eigener Anschauung erst seit den späten 1980er Jahren kannte. Ich recherchierte Erinnerungen von Menschen östlich und westlich der Mauer − dramatische, traurige, mutige und kuriose Begebenheiten, die sich entlang der Grenze ereignet hatten. In einem vierköpfigen Autorinnenteam schrieben wir kurze Geschichten, die erzählen, wie die Mauer den Alltag der Menschen in Berlin 28 Jahre lang prägte.
Ausstellungspulte entlang der Lichtgrenze
Das Projekt war ein Kraftakt, aber ein ungeheuer aufregender und anregender. Zwischen dem 7. und dem 9. November 2014 war zwischen Bornholmer Straße und Oberbaumbrücke alle 150 Meter eine dieser Mauergeschichte zu lesen, jeweils an dem Ort, wo sie sich abgespielt hatte. Mich hat beeindruckt und gefreut zu sehen, wie Besucher aus der ganzen Welt dieses Angebot annahmen, an der Strecke diskutierten, sich erinnerten und ihre eigenen Geschichten erzählten.
Ein halbes Jahr nach meiner Autofahrt über die Transitstrecke brachten Ostdeutsche die Berliner Mauer zu Fall; ich selbst habe den 9. November 1989 nur im Fernsehen erlebt. Am vergangenen Wochenende, 25 Jahre später, war bei vielen Menschen die Freude über den Mauerfall wieder zu spüren. Längst nicht überall auf der Welt herrscht Freiheit, es sind noch viele Mauern einzureißen. Aber der Herbst 1989 hat gezeigt, dass es sich lohnt, friedlich für Veränderung zu streiten.
Ausgewählte Mauergeschichten sind übrigens in der gleichnamigen Begleitbroschüre mit dem Untertitel „Erinnerungen und Botschaften zum 25. Jahrestag des Mauerfalls“ nachzulesen, ergänzt durch Fotos von der Lichtgrenze, Zeitzeugenportraits und Ballonbotschaften. Auf der Seite fallofthewall25.com werden rund 50 Geschichten präsentiert.
Letternleuchten hat im Auftrag der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. die Ausstellung „Hundert Mauergeschichten – Hundert Mal Berlin“ entlang der Lichtgrenze konzeptionell, redaktionell und organisatorisch betreut und gehörte zum Autoren- und Presseteam des Vereins. Die Robert-Havemann-Gesellschaft war Partner bei der Jubiläumsfeier des Landes Berlin zu 25 Jahre Mauerfall 2014.